Thalassämien: Seltene Hämoglobinopathien mit wachsender Relevanz
PD Dr. med. Lena Oevermann und Antje Blum M.A.Thalassämien zählen zu den häufigsten erblichen Bluterkrankungen weltweit. In Deutschland gelten Thalassämien noch als selten, treten aber bei Menschen aus dem Mittelmeerraum, Nahost, Südostasien oder Afrika deutlich häufiger auf. Die pädiatrische Hämatoonkologin Dr. Lena Oevermann von der Charité Berlin erläutert im Podcast „O-Ton Onkologie“ die wichtigsten Aspekte von Diagnostik, Therapie und neuen Entwicklungen – inklusive eindrücklicher Kasuistiken.
PD Dr. Lena Oevermann, Berlin
Thalassämien sind genetisch bedingte Störungen der Hämoglobinsynthese aufgrund von über 300 bekannten Mutationen in den Genen für Alpha- oder Beta-Globinketten. Man unterscheidet die Alpha- und Beta-Thalassämien nach Schweregraden. Das Fehlen eines Neugeborenenscreenings für Thalassämien in Deutschland erschwert die frühe Diagnosestellung. Eine Thalassämia minor ist klinisch unauffällig, wird aber oft fälschlich mit einem Eisenmangel assoziiert. Eine korrekte Differenzierung gelingt nur durch gezielte Diagnostik, etwa Ferritin, Transferrinsättigung, CRP sowie ggf. genetische Analysen. Bei transfundierten Kindern ist eine Hämoglobinelektrophorese wenig aussagekräftig – hier bleibt die Genetik der Goldstandard. Bei der Thalassämia major können durch die gestörte Globinkettensynthese keine stabilen Hämoglobinmoleküle gebildet werden. Die Folge: ineffektive Erythropoese, Hämolyse, extramedulläre Blutbildung und Eisenüberladung – Letztere teilsauch ohne Transfusionen, da die intestinale Eisenresorption hochreguliert wird. Skelettveränderungen, Splenomegalie und Organablagerungen sind typische Folgen einer unzureichenden Therapie. Standardtherapie bei Thalassämia major ist die lebenslange Transfusionstherapie, meist im 3-Wochen-Rhythmus. Bereits nach 10-15 Transfusionen steigen Ferritinwerte über 1.000 µg/l – eine Chelat-Therapie ist dann indiziert. Die Therapiekontrolle erfolgt mittels Ferritin und Eisen-sensitiver Magnetresonanztomographie (MRT) (Leber, Herz, Milz, Pankreas). Wichtig ist zudem ein erweitertes Blutgruppenmatching zur Vermeidung von Antikörperbildung.
Kasuistiken
Ein Fallbericht schildert einen 3 Monate alten Jungen syrischer Eltern mit einem Hb-Wert von 5,5 g/dl und einer Splenomegalie. Die Diagnose Thalassämia major wurde durch genetische Tests bestätigt – beide Eltern waren Träger. Der Junge befindet sich seither im Transfusions- und Chelat-Programm. In einem weiteren Fall konnte ein 8-jähriges Mädchen mit massiver Eisenüberladung erfolgreich transplantiert werden: Eine allogene Stammzelltransplantation ist derzeit die einzige kurative Therapie. Optimal ist der Eingriff im Kindesalter (< 12-14 Jahre), idealerweise mit HLA-identem Geschwisterspender. Eine vorherige Eisenentlastung ist essenziell, um Transplantationskomplikationen wie Lebertoxizität und Venenverschlusskrankheit zu vermeiden. Nach der Transplantation blieb das Kind 4-6 Wochen stationär, benötigt nun ca. ein Jahr zur vollständigen Immunrekonstitution und erhält eine temporäre Immunsuppression. Nach geglückter Transplantation kann oft eine Aderlass-Therapie zur Eisenreduktion ausreichen.
Gentherapie und Pipeline
Kürzlich wurde die erste CRISPR/Cas-basierte Gentherapie von der EMA zugelassen. Der Ansatz: In CD34+-Stammzellen wird der Repressor für das fetale Hämoglobin (HbF) ausgeschaltet. Die Folge ist eine gesteigerte HbF-Produktion – ohne Beta-Ketten – und somit eine funktionelle Kompensation. Allerdings bleibt die myeloablative Konditionierung notwendig (inkl. Risiko für Infertilität) und langfristige Effekte der Gentherapie sind noch unklar. Weitere Forschungsansätze betreffen Antikörper-basierte Konditionierungen sowie In-vivo-Gentherapien, die künftig ohne Chemotherapie auskommen könnten. Mutationsspezifische Gentherapien sind bei der Vielzahl an Varianten derzeit noch unrealistisch.
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