Sichelzellanämie
David Meier M.Sc.Die Sichelzellkrankheit (englisch: Sickle Cell Disease, SCD) oder Sichelzellanämie umfasst eine Gruppe von erblichen Erkrankungen, bei der die Betroffenen ein abnormales Hämoglobin bilden (HbS). Dadurch kommt es unter Sauerstoffmangel zur Bildung von Fibrillen und zur Verstopfung von Blutgefäßen. Die Erkrankung ist vor allem im Subsahararaum endemisch, hat sich jedoch in den letzten Jahrzehnten durch Migration weltweit ausgebreitet. In Deutschland leben ca. 3.000 bis 5.000 Menschen mit Sichelzellkrankheiten.
Was ist Sichelzellanämie?
Die Sichelzellanämie ist eine genetisch bedingte hämolytische Anämie, die durch eine Mutation im β-Globin-Gen (HBB) auf Chromosom 11 verursacht wird. Sie führt zur Bildung von Hämoglobin S (HbS). Unter Sauerstoffmangel polymerisiert HbS, wodurch Erythrozyten ihre bikonkave Form verlieren und sich sichelförmig verformen. Diese deformierten Erythrozyten sind starr, neigen zur Aggregation und verursachen Gefäßverschlüsse (Vasookklusionen).
Wo ist die Sichelzellanämie am meisten verbreitet?
Die Prävalenz der Sichelzellanämie ist regional sehr unterschiedlich. Am häufigsten tritt die Erkrankung in Regionen auf, in denen Malaria endemisch war oder ist, da der heterozygote Trägerstatus einen gewissen Schutz vor einem schwerem Malariaverlauf bietet. Über 70% aller weltweiten Fälle treten in Subsahara-Afrika auf. Die jährliche weltweite Inzidenz wird auf etwa 300.000 Neugeborene geschätzt.
Wie kommt es zur Sichelzellanämie?
Die Sichelzellanämie beruht auf einer Punktmutation im HBB-Gen, durch die an Position 6 der β-Untereinheit des Hämoglobins Glutaminsäure durch Valin ersetzt wird. Diese Mutation verändert die physikochemischen Eigenschaften des Hämoglobins. Bei niedriger Sauerstoffsättigung oder Dehydratation polymerisiert HbS intrazellulär und verursacht eine Sichelform der Erythrozyten. Diese Zellen sind weniger flexibel, verkleben leichter, haften vermehrt an Endothelien und verursachen Mikrogefäßverschlüsse.
Die Sichelung ist zunächst reversibel, kann aber bei wiederholten Episoden zur irreversiblen Schädigung der Zellmembran führen. Irreversibel gesichelte Zellen haben eine stark verkürzte Lebensdauer von etwa 10–20 Tagen (normal: ca. 120 Tage), was zu chronischer hämolytischer Anämie führt.
Die Erkrankung wird autosomal-rezessiv vererbt. Homozygote Träger:innen (HbSS) entwickeln die klassische Sichelzellanämie, während heterozygote Träger:innen (HbAS) meist keine Symptome zeigen, die Mutation jedoch vererben können.
Welche Folgen hat die Sichelzellanämie?
Die deformierten Erythrozyten verlieren ihre Elastizität, was ihre Passage durch enge Kapillaren erheblich behindert. Außerdem neigen sie zur Aggregation und zur verstärkten Adhäsion an das Endothel sowie an Leukozyten und Thrombozyten. Diese Zell-Zell-Interaktionen führen zu Mikrozirkulationsstörungen und Gefäßverschlüssen. Gleichzeitig entsteht durch die Hämolyse freies Hämoglobin, das Stickstoffmonoxid bindet und so eine Vasokonstriktion sowie endotheliale Dysfunktion begünstigt. Entzündungsmediatoren und Adhäsionsmoleküle verstärken diesen Effekt zusätzlich und fördern einen chronischen inflammatorischen Zustand. Die Folge ist ein selbstverstärkender pathologischer Kreislauf aus Vasookklusion, oxidativem Stress und Organschädigung, der insbesondere Milz, Niere, Lunge, Gehirn und Knochen betrifft.
Akute Krisen
Bei den Erkrankten kann es immer wieder zu akuten Krisen (Exazerbationen) kommen. Diese treten häufig scheinbar ohne Grund auf, in einigen Fällen spielen aber Infektionen und bestimmte Medikamente eine Rolle.
Vaso-okklusive Krise (VOK): Diese ist die häufigste Komplikation der Sichelzellanämie und entsteht durch Gewebehypoxie. Die Folge ist eine akute Ischämie des betroffenen Gewebes, die sich klinisch in plötzlichen, starken Schmerzen äußert – meist in Knochen, Gelenken, Abdomen oder Brust. Die Schmerzen können Stunden bis Tage andauern und wiederkehren. Auslöser sind häufig Infekte, Dehydratation, Kälte, medikamenten-induzierte Hämolyse oder Stress.
Aplastische Krise: Diese Krise ist durch einen vorübergehenden Stillstand der Erythropoese im Knochenmark gekennzeichnet, was bei Patient:innen mit Sichelzellanämie zu einem raschen Abfall des Hämoglobinwerts führt. Ursache ist meist eine Infektion mit Parvovirus B19, das erythroide Vorläuferzellen im Knochenmark zerstört. Dabei kann eine akute Erythroblastopenie auftreten.
Akutes Thoraxsyndrom (ATS): Das ATS ist mit einer Mortalitätsrate von ca. 10% eine potenziell lebensbedrohliche Krise und entsteht durch eine mikrovaskuläre Okklusion in der Lunge.
Sequestrierungskrise: Dabei kommt es zu einer akuten Ansammlung von großen Erythrozytenmengen in der Milz (meist bei Kindern) oder Leber (bei Kindern und Erwachsenen), was eine plötzliche, massive Hypovolämie und lebensbedrohliche Anämie verursacht.
Priapismus: Eine schmerzhafte, anormale Dauererektion, die vor allem bei jungen Männern mit Sichelzellanämie als Komplikation auftreten kann und zu erektilen Dysfunktionen führt.
Wie wird Sichelzellenanämie klassifiziert?
Die Sichelzellanämie wird anhand der Hämoglobin-Konstellationen klassifiziert. Die häufigste Form ist die homozygote Sichelzellkrankheit (HbSS), bei der sowohl das väterliche als auch das mütterliche Allel die Mutation trägt. Personen die eine heterozygote Variante aufweisen sind symptomfrei. Zusätzlich können weitere Varianten durch Kombinationen von HbS mit anderen Hämoglobinopathien entstehen:
HbSC-Krankheit (SCD-S/C): Ein Allel trägt die Sichelzellmutation, das andere die HbC-Mutation
Sichelzell-β-Thalassämie (SCD-S/β-Thalassämie): Eine Kombination aus Sichelzell- und β-Thalassämie-Mutationen.
Was sind die Symptome der Sichelzellanämie?
Schlechtes Wachstum
Knochenschmerzen, besonders in den Fingern
hämolytische Anämie ungeklärter Ursache
Schocksymptomatik und ausgeprägte Splenomegalie
aseptische Nekrosen von Hüft - bzw. Humeruskopf
geringe Anämie oder normaler Hb-Wert und Auftreten von Sehstörungen / Hörminderung (HbSC)
Wie erfolgt die Diagnose der Sichelzellanämie?
Die Diagnose erfolgt mittlerweile hauptsächlich durch das Neugeborenenscreening, das in Deutschland 2021 eingeführt wurde. Um HbS nachzuweisen wird dabei eine Hämoglobinelektrophorese oder eine Hämoglobinfraktionierung mittels Hochleistungsflüssigkeitschromatographie (HPLC) durchgeführt. Vor der Geburt kann eine pränatale Diagnostik mittels PCR (Polymerase-Kettenreaktion) veranlasst werden. Dies wird vor allem für Familien mit erhöhtem Risiko für Sichelzellanämie empfohlen.
Bei Migrant:innen aus Ländern mit ungenügendem medizinischem Standard kann sich die Diagnosestellung bis ins Erwachsenenalter verzögern. Bei Patient:innen mit Symptomen oder Anzeichen sollte daher auf Auffälligkeiten im Blutbild geachetet werden:
Niedriger Hämoglobinwert: 6–9 g/dl
Erhöhte Retikulozytenzahl
Leukozytose
Thrombozytose
Erhöhte LDH, Bilirubin und freies Hämoglobin: Diese Marker weisen auf eine intravasale Hämolyse hin
Um die Diagnose zu verfestigen, sollte eine Hämoglobin-Analyse mittels HPLC oder Hämoglobinelektrophorese erfolgen, sowie die Erythrozyten auf Sichelzellenbildung untersucht werden.
Diagnostik bei Exazerbationen
Bei Patient:innen mit gesicherter Sichelzellkrankheit und akuter Exazerbation mit Schmerzen, Fieber oder weiteren Hinweisen auf eine Infektion sollte differenzialdiagnostisch eine aplastische Krise in Betracht gezogen werden. In diesem Zusammenhang sind ein Blutbild sowie die Bestimmung der Retikulozyten erforderlich. Ein Retikulozytenwert unter 1% spricht für eine aplastische Krise, insbesondere bei gleichzeitigem Abfall des Hämoglobinwerts unter den patientenindividuellen Ausgangswert.
Im Rahmen einer schmerzhaften Krise ohne Aplasie zeigt sich häufig eine Leukozytose mit Linksverschiebung, vor allem bei bakteriellen Infektionen. Die Thrombozytenzahl ist in der Regel erhöht, kann jedoch beim akuten Thoraxsyndrom abfallen. Gleiches gilt für die Serumbilirubinwerte, die beispielsweise zwischen 2–4 mg/dl (34–68 µmol/l) liegen können. Urobilinogen ist im Urin gelegentlich nachweisbar.
Die vaso-okklusive Krise stellt eine klinische Diagnose dar und lässt sich laborchemisch nicht eindeutig belegen. Bestimmte Laborbefunde können jedoch Aufschluss über die Schwere der Erkrankung und das Risiko einer Dekompensation geben, etwa eine Thrombozytopenie, eine Retikulozytopenie, erhöhte Leberwerte, gesteigerte Kreatininspiegel oder erhöhte Troponinwerte.
Thorakale Schmerzen oder Dyspnoe sind Hinweise auf ein akutes Thoraxsyndrom oder eine Lungenembolie. In solchen Fällen sind eine Thoraxröntgenaufnahme und eine Pulsoxymetrie erforderlich. Da das akute Thoraxsyndrom die führende Todesursache bei Sichelzellanämie darstellt, ist eine frühzeitige Diagnostik und Therapie essenziell. Eine Hypoxämie oder das Vorliegen parenchymaler Infiltrate im Röntgenbild sprechen für ein akutes Thoraxsyndrom oder eine Pneumonie. Tritt eine Hypoxämie neu auf, ohne dass Infiltrate erkennbar sind, ist differenzialdiagnostisch an eine Lungenembolie zu denken.
Wie wird die Sichelzellanämie behandelt?
Medikamentöse Therapie
Hydroxycarbamid: Standardtherapie zur Reduktion vaso-okklusiver Krisen und zur Erhöhung des fetalen Hämoglobins (HbF).
Crizanlizumab: Ein monoklonaler Antikörper, der an P-Selektin bindet und die Adhäsion von Leukozyten und Thrombozyten an das Endothel hemmt, wodurch vaso-okklusive Ereignisse reduziert werden.
Voxelotor: Ein Hämoglobin-Modulator, der die Affinität von Hämoglobin zu Sauerstoff erhöht und somit die Polymerisation von HbS verhindert.
L-Glutamin: Eine Aminosäure, die oxidativen Stress reduziert und die Anzahl der Schmerzkrisen verringern kann.
Transfusionen
Transfusionen sind indiziert bei:
Akutem Thoraxsyndrom
Schlaganfall oder hohem Schlaganfallrisiko
Schwerer Anämie mit hämodynamischer Instabilität
Es wird zwischen einfachen Transfusionen und Austauschtransfusionen unterschieden. Ziel ist es, den HbS-Anteil unter 30% zu senken. Bei wiederholten Transfusionen ist eine Überwachung der Eisenwerte notwendig, um eine Eisenüberladung zu vermeiden.
Aderlass
Bei über 90% der erwachsenen Patient:innen mit Sichelzellkrankheit vom Typ HbSC liegen die Hämoglobinwerte über 10 g/dl, häufig sogar über 12 g/dl. Diese erhöhte Blutviskosität kann mit einem gehäuften Auftreten von Schmerzkrisen, Schwindel oder auch Hörstörungen bis hin zum Hörsturz einhergehen. Bei Betroffenen mit entsprechenden Symptomen und einem Hämoglobinwert über 11 g/dl kann ein Aderlass zur Absenkung des Hämoglobins unter 10 g/dl erwogen werden.
Stammzelltransplantation
Die allogene hämatopoetische Stammzelltransplantation (HSCT) ist besonders bei Kindern mit schwerem Verlauf und verfügbarem HLA-identischem Geschwisterspender indiziert. Risiken beinhalten Transplantatabstoßung und Graft-versus-Host-Erkrankung, die insbesondere nach dem 14. Lebensjahr verstärkt auftreten. Die Transplantations-Ergebnisse mit einem HLA-identen Fremdspender entsprechen nicht denen eines Familienspenders. Da nur für weniger als 20% der Patient:innen ein HLA-identischer Geschwisterspender oder ein Fremdspender gefunden werden kann, wird in den letzten Jahren zunehmend auch die haploidentische Transplantation von Eltern, Geschwistern und leiblichen Kindern untersucht.
Gentherapie
Ein vielversprechender Ansatz in der kurativen Therapie der Sichelzellkrankheit ist die Gentherapie mit Exagamglogene autotemcel (Exa-cel). Exa-cel ist die erste zugelassene CRISPR/Cas9-basierte Geneditierungstherapie zur Behandlung von Patient:innen mit schwerer Sichelzellkrankheit. Sie wurde 2023 in mehreren Ländern – darunter auch in der EU – für ausgewählte Patientengruppen zugelassen.
Exa-cel zielt darauf ab, die Expression des fetalen Hämoglobins (HbF) dauerhaft zu reaktivieren, um die Polymerisation von HbS zu unterbinden. Die Therapie basiert auf einer einmaligen genetischen Modifikation von autologen hämatopoetischen Stammzellen des Patienten. Mithilfe von CRISPR/Cas9 wird gezielt das BCL11A-Enhancer-Element in den CD34⁺-Zellen deaktiviert, ein Transkriptionsfaktor, der normalerweise die HbF-Produktion unterdrückt. Infolge dieser Modifikation wird HbF in relevanter Menge produziert und ersetzt das krankheitsauslösende HbS funktionell.
Management spezifischer Komplikationen
Akute Schmerzkrisen: Behandlung mit Analgetika entsprechend der WHO-Stufentherapie, ausreichende Hydratation und ggf. Sauerstoffgabe.
Akutes Thoraxsyndrom: Kombination aus Antibiotikatherapie, Schmerzmanagement, Sauerstoffgabe und ggf. Transfusion.
Priapismus: Notfallbehandlung durch Aspiration, intrakavernöse Injektion von α-Agonisten und ggf. chirurgische Intervention.
Nephropathie: Regelmäßige Kontrolle der Nierenfunktion, Blutdruckmanagement und Einsatz von ACE-Hemmern bei Proteinurie.
Wie hoch ist die Lebenserwartung bei Sichelzellanämie?
In Industrieländern beträgt die mittlere Lebenserwartung von homozygoten Patient:innen 50–60 Jahre. In Ländern ohne Zugang zu moderner Therapie liegt sie deutlich niedriger. Zu den häufigen Todesursachen gehören das akute Thoraxsyndrom, rezidivierende Infektionen, Lungenembolien, Organversagen, pulmonale Hypertonie und chronische Nierenerkrankungen.
Häufig gestellte Fragen zum Thema Sichelzellanämie
Rund um das Thema Sichelzellanämie stellen sich für Betroffene und Angehörige oft viele Fragen: zur Diagnose, zu Behandlungsmöglichkeiten, zu Nebenwirkungen oder zum Alltag mit der Erkrankung. In dieser Patienten-FAQ finden Sie Antworten auf die häufigsten Fragen.
Literatur:
- (1)
Onkopedia-Leitlinie: Sichelzellkrankheiten, Stand: Oktober 2024, abrufbar unter: https://www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/sichelzellkrankheiten/@@guideline/html/index.html, letzter Zugriff: 11.07.2025.
- (2)
MSD-Manual: Sichelzellanämie, abrufbar unter: https://www.msdmanuals.com/de/profi/hämatologie-und-onkologie/hämolytische-anämien/sichelzellanämie, letzter Zugriff: 11.07.2025.
- (3)
AWMF-Leitlinie 025/016 „Sichelzellkrankheit“, Stand: Juli 2020, abrufbar unter: https://register.awmf.org/assets/guidelines/025-016l_S2k_Sichelzellkrankheit_2020-12.pdf, letzter Zugriff: 11.07.2025.
- (4)
Elendu C. et al. (2023) Understanding Sickle cell disease: Causes, symptoms, and treatment options, Medicine (Baltimore), 2023 Sep 22;102(38):e35237, DOI: 10.1097/MD.0000000000035237.